Vater-Hunger, Vater-Kraft

Kraftvoll Mann-Sein durch Aussöhnung mit dem Vater

von Sharan Thomas Gärtner

Dem eigenen Vater zu vergeben – nicht durch Willensanstrengung, sondern indem wir lernen, sein tatsächliches Leben zu verstehen – ist einer der befreiendsten Schritte, die wir überhaupt tun können.
(Steve Biddulph, Männer auf der Suche)

Ich war 19 und mit meiner Freundin an einem Wochenende in die Eifel gefahren. Es wurde gerade dunkel, als ein offenbar etwas angetrunkener Mann, wohl ein einheimischer Landwirt, uns auf der Straße anhielt und um etwas Benzin bat – er hatte seinen Tank leergefahren.
Zum Dank klopfte er mir, etwas bierselig, ziemlich kräftig auf die Schulter.
Als ich wieder im Auto saß, geschah etwas Merkwürdiges: Zum einen tat meine Schulter richtig weh. Und zugleich war ich zutiefst glücklich…
Damals verstand ich zum ersten Mal, was Vater-Hunger bedeutet. Der ziemlich grobe, männliche Dank dieses Eifler Bauern hatte eine tiefe Sehnsucht in mir berührt: die nach
dem Kontakt zum Vater, nach seiner Berührung, nach väterlicher Anerkennung. Vielleicht wurde mir in diesem Moment bewußt, dass ich nicht einfach „meinen Weg gehen“ und „meinen Vater hinter mir lassen kann“, wie ich es zuvor versucht hatte.

Schließe für einen Moment die Augen und stell Dir vor, Dein Vater betritt den Raum. Was fühlst Du?
Traurigkeit und Schweigen? Ärger und Wut im Bauch? Ängstlichkeit und ein Gefühl von Betäubung?
Oder Freude und Dankbarkeit?

Im Idealfall wachsen Söhne mit einem präsenten und liebevoll fordernden Vater im Rücken auf und haben Mentoren und eine männliche Gemeinschaft, die sie bewusst ins Mannsein hineinführen. Denn „Männer können nur von Männern initiiert werden. Frauen können aus einem Embryo einen Jungen werden lassen, aber nur Männer können aus einem Jungen einen Mann machen.“ (Robert Bly, „Eisenhans“).

Für viele Männer ist der Vater statt dessen der große Unbekannte geblieben – sie verbinden mit ihm Leere, Bedrohung, Flucht oder Missbrauch. Der Vater war bedrohlich für den Sohn, weil er eifersüchtig war auf die mütterliche Zuwendung oder weil ihn die kindliche Lebendigkeit an sein verschlossenes Herz erinnerte. Er war abwesend und signalisierte: „Du bist mir egal!“. Oder er schenkte „Liebe“ im Tausch gegen Höchstleistungen des Sohnes.

Manche von uns haben dann entweder versucht, so zu werden wie dieser Vater, um seine Liebe doch noch zu gewinnen. Oder wir gaben alles, um ganz anders zu werden als er. Vielleicht war das auch die Botschaft der Mutter: „Werde bloß nicht wie dein Vater!“ – im Klartext: „werde kein Mann!“ Dann fühlte der Sohn sich verraten vom Vater und lebenslang von ihm allein gelassen mit der Mutter.

Typische innere Sätze des „vaterlosen“ Jungen in uns:

  • „Ich fürchte mich immer noch vor Deiner Meinung und strebe danach, Dir zu gefallen.“
  • „Ich schwanke oft hin und her zwischen der Suche nach Bestätigung durch Dich und dem Verlangen, Dir überlegen zu sein.“
  • „Ein Teil von mir sucht Heilung und die Nähe zu Dir, während ich mich gleichzeitig an meine Wut klammere!“
  • „Ich habe mir meine Sehnsucht nach Dir nie wirklich eingestanden.“

Meine eigene Männerarbeit begann mit diesem „Vater-Hunger“. Mein aus dem Krieg heimgekehrter, abwesender Vater konnte mir den Weg ins Mann-Sein nicht zeigen. Meine Mutter suchte im Sohn den Halt, den sie bei ihrem Mann nicht fand. Und mein Vater resignierte in diesem subtilen Machtkampf. So wurde auch mein Mann-Sein geprägt von einem eigenartigen Gefühl der Bodenlosigkeit und mangelnden Verwurzelung. Die Einsicht in meinen ganz persönlichen „Vater-Hunger“ und die Entscheidung, dafür Verantwortung zu übernehmen, stand am Beginn meines eigenen Weges als Mann.

Die Vater-Wunde transformieren

Männer brauchen Männer, um den erheblichen inneren Widerstand, sich wirklich auf dieses Thema einzulassen, aufzugeben. Wenn wir uns aber dem Schmerz stellen, dem „inneren Jungen“ in uns Raum geben und unsere Wunden „auf Händen vor uns her tragen“ (Richard Rohr), werden diese Wunden zu einem Teil unserer Kraft.

Was zumeist als „männlich“ abgelehnt wird wie Gewaltbereitschaft, Gefühllosigkeit, Bindungsschwäche sind keine Merkmale von Männlichkeit, sondern Ausdruck von Verletzungen. Deswegen muss jeder Mann zum einen seine destruktiven Muster konfrontieren: die narzisstische Einsamkeit des Einzelkämpfers, das verschlossene Herz, die entfremdete Sexualität, die Trennung von Lieben und Begehren, der Rückzug von der Frau, wenn Mutterschaft da ist, unser Gewaltpotenzial, unseren Flirt mit Süchten aller Art.

Jeder Mann muss sich zum anderen ebenso seinen eigenen Wunden zuwenden: dem grundlegenden „Vater-Hunger“, aber auch der emotionalen Übergriffigkeit von Frauen, der kollektiven Verletzung durch eine jahrtausendealte patriarchale Kriegskultur, und auch der zum Teil feindseligen Abwertung des Männlichen im gesellschaftlichen Diskurs der letzten fünfzig Jahre.

Viele Jahre nach der Begegnung mit dem Eifler Bauern brachte ich meinen Vater zum Flughafen nach Düsseldorf. Nach fünfzig Jahren hatte er zu dem lettischen Piloten Kontakt bekommen, mit dem er 1944 als deutscher Jagdflieger in Kurland Einsätze geflogen war. Damals sah ich meinen Vater das erste Mal in meinem Leben weinen. Er konnte nicht mehr aufhören, er war einfach überwältigt von dieser Erfahrung: am Ende seines Lebens, fünfzig Jahre nach dem Krieg, kehrte er dorthin zurück, wo er als junger Mann für den Rest seines Lebens geprägt worden war.

Wenn wir heute unser männliches Herz öffnen und uns erlauben, aufrichtig, verletzlich, weich und berührbar zu sein, durchbrechen wir eine jahrhundertealte Kette des Leids.
Um so voll und ganz Ja zu uns selbst und unserem Mann-Sein sagen zu können, müssen wir innerlich den Weg zum Vater gehen und mit ihm ins Reine kommen.
Diese Klärung ist möglich unabhängig davon, ob der Vater noch lebt oder nicht.
Viele Männer gehen diesen Weg und dieser Mut wird belohnt durch ein viel größeres Spektrum, mit dem wir Männlichkeit heute leben können.

Weitere Infos, Videovortrag und Seminartermine unter www.liebe-zum-mannsein.de